Der Inhalt zählt: Die Textebene.
Für dieses Jahr habe ich mir vorgenommen, hier im Blog die verschiedenen Ebenen der Leichte-Sprache-Regeln genauer zu beleuchten. Heute beginnt die Reihe mit der Textebene und warum sie für eine gute Übersetzung in Leichte Sprache so wichtig ist.
Sie ist die weitaus wichtigste von allen, denn auf der Textebene lege ich ganz zentrale Aspekte fest, die Auswirkungen auf den Leichte-Sprache-Text haben. Die Textebene ist sozusagen die Vogelperspektive. Oder anders formuliert: Ich muss mir erstmal einen guten Überblick verschaffen. Deshalb schaue ich auf den Text als Ganzes und kläre für mich folgende Aspekte:
Textfunktion und Textsorte
Welche Funktion hat der Text? Will er unterhalten? Will er informieren? Muss der Leser am Ende etwas unterschreiben? Oder einen Termin vereinbaren? Welche Textsorte liegt vor? Ist es ein Zeitungsartikel, eine Werbebroschüre, eine Einladung, ein Flyer mit Informationen, ein Beipackzettel?
All diese Infos baue ich in den Leichte-Sprache-Text ein. Denn für eine gute Übersetzung sollte das Ziel immer sein, dass der Leichte-Sprache-Text sich eng an den Ausgangstext anlehnt. Es ist übrigens hilfreich, diese Info direkt an den Anfang des Leichte-Sprache-Textes zu setzen, zum Beispiel: „Dieser Text informiert Sie über eine Krankheit.“ Oder „In diesem Text geht es um unseren Tag der offenen Tür.“
Schwere Begriffe
Wie viele schwere Begriffe stecken im Text? Und: Sind sie unbedingt notwendig, d. h. muss ich sie verwenden und erklären, wie zum Beispiel den Namen einer Erkrankung? Oder kann ich sie weglassen, weil sie für den Leser nicht relevant sind, wie beispielsweise den lateinischen Namen der Erkrankung, wenn es dafür eine geläufige deutsche Entsprechung gibt (Bluthochdruck statt Hypertonie)? Habe ich viele schwere Wörter, die im Text bleiben müssen, muss ich vielleicht ein Glossar anlegen. Oder ich muss für das Layout berücksichtigen, dass ich die Erklärungen in Textfelder neben den Text setze. Eine gute Übersetzung in Leichte Sprache muss es schaffen, die schweren Wörter und ihre Erklärung so in den Textfluss einzubauen, dass der Leser nicht abgelenkt wird und danach wieder an den weiteren Text anknüpfen kann.
Kernaussage
Was ist die allerwichtigste Aussage im Text? Die steht oft gar nicht am Anfang, wie man vermuten könnte. In jedem Fall identifiziere ich die zentrale Aussage, damit ich sie im Leichte-Sprache-Text ganz an den Anfang rücken kann. Das klingt nach wenig, ist aber für mich die Regel, die ich ganz besonders ernst nehme. Denn aus Erfahrung mit Prüfern und Prüferinnen weiß ich, dass nicht immer die Bereitschaft besteht, den kompletten Text zu lesen. Es kann sein, dass die Prüferin schon nach wenigen Sätzen erschöpft ist und den Rest gar nicht mehr lesen möchte oder gedanklich merklich abschaltet. Deshalb ist es so wichtig, dass eine gute Übersetzung in Leichter Sprache mit der wichtigsten Information beginnt. Das könnte dann so lauten: „In diesem Brief geht es um Ihren Antrag auf Wohngeld. Füllen Sie alle Felder aus. Am Ende müssen Sie den Antrag unterschreiben. Und dann müssen Sie uns den Antrag schicken.“ Stelle ich diese wichtige Info direkt an den Anfang, kann ich möglichst sicher sein, dass die Botschaft auch ankommt.
Textlänge
Wie lang ist der Text und wie lang wird etwa mein Leichter-Sprache-Text? Ist er sehr lang? Dann brauche ich vielleicht ein Inhaltsverzeichnis. Oder reicht eine Gliederung mit Zwischenüberschriften? Vielleicht brauche ich auch ein Vorwort oder eine Einleitung, um den Leser auf das Thema einzustimmen. Und, auch ganz wichtig für eine gute Übersetzung in Leichte Sprache: In welcher Situation wird der Text vermutlich gelesen? Liest die Leserin ihn zu Hause in Ruhe? Oder ist es ein Flyer? Oder ein Aushang am Schwarzen Brett, der im Vorbeigehen wahrgenommen wird? All diese Dinge spielen eine große Rolle. Oft wird der Text in Leichter-Sprache länger als der Ausgangstext, weil wir alle Informationen vereinzeln und in separate Sätze packen. Aber auch, weil wir Dinge erklären. Und wenn der Auftraggeber dann einen Flyer möchte, stoßen wir schnell an Grenzen. Daher lege ich auf der Textebene bereits fest, wie lang und ausführlich mein Leichte-Sprache-Text überhaupt werden darf. Ich lege auch fest, ob und welche Informationen ich nicht übernehme. Alles, was ich nicht übernehme, bespreche ich mit dem Auftraggeber und begründe meine Entscheidung.
Und auch das Layout behalte ich im Auge. Aber das ist ein Aspekt, den ich hier nicht ausführe, weil er von meinem Thema wegführt.
Informationen explizit benennen
Sind bestimmte Informationen nur impliziert, also nicht ausdrücklich benannt? Dann muss ich sie an die Oberfläche holen. Das ist einer meiner liebsten Aspekte, und ich freue mich immer, wenn ich einen unklaren Ausgangstext habe und ich beim Auftraggeber nachhaken muss. Das ist nämlich der entlarvende Aspekt der Leichten Sprache: Alles, was gesagt werden soll, muss auch gesagt werden! Häufig verbergen sich Informationen im Text, die wir als geübte Leser mühelos im Kontext ergänzen, was wir aber von der Zielgruppe für Leichte Sprache nicht erwarten können. Zum Beispiel: „Die Kündigung kann innerhalb von sechs Wochen zum Quartalende erfolgen. Das rechnen wir mal eben schnell aus. In Leichter Sprache ergänze ich hier aber konkret beide Daten, um die es geht: „Wollen Sie kündigen? Dann müssen Sie uns spätestens am 15. Februar schreiben. Die Kündigung gilt dann ab dem 31. März.“ Oder es kommt durch die Verwendung des Passiv zu Ungenauigkeiten, wie es mir vor ein paar Jahren passiert ist. Im Ausgangstext meines Auftraggebers hieß es: „Das Wasser aus der Talsperre wird gereinigt.“ Meine Version: „Wir reinigen das Wasser aus der Talsperre.“ Korrektur vom Auftraggeber: „Das machen wir gar nicht; das macht ein externer Anbieter!“ Guck mal an, das ist auch im Ausgangstext nicht klar geworden. Daher: Eine gute Übersetzung in Leichte Sprache benennt alle Dinge beim Namen.
All dies sind also Dinge, die ich prüfe, bevor ich überhaupt mit dem Leichte-Sprache-Text beginne. Und aus diesen Puzzleteilen erstelle ich eine grobe Struktur für meinen Text. Das ist der allererste Schritt. Eine gute Übersetzung für Leichte Sprache beginnt also auf der Textebene.
Textebene niemals ignorieren!
Leider wird die Textebene, also der Text als Einheit, häufig vernachlässigt. Es passiert sehr schnell, dass man einfach einen Satz nach dem anderen übersetzt, wie bei einer Fremdsprachenübersetzung. Aber daraus kann kein guter Leichte-Sprache-Text entstehen, weil eine reine Aneinanderreihung von Sätzen in Leichter Sprache eben all das ignoriert, was ich oben aufgeführt habe: Ein langer Text bleibt also lang bzw. wird noch länger, implizite Informationen werden eher nicht aufgedeckt, die zentrale Aussage steht immer noch irgendwo im Text und der Text sieht nachher aus wie jeder andere Text in Leichter Sprache ohne sich optisch und stilistisch an den Ausgangstext anzunähern.
Auch die DIN Spec, die sich der Vollendung nähert, geht auf diesen Aspekt ein und betont, dass erst das Zusammenwirken vieler Faktoren einen guten Text in Leichter Sprache ergibt (über die DIN SPEC habe ich mich vor einiger Zeit schon geäußert).
Meine Empfehlung
Erst aus der Vogelperspektive auf den Text schauen; wichtige Aspekte (siehe oben) analysieren, Textauswahl treffen, grobe Struktur überlegen, und dann geht’s erst an die eigentliche Übersetzung!